Barrierefreiheit im UX-Design: Sie fängt nicht bei der Technik an und hört dort längst nicht auf.
- Patrick Krug
- 3. Juli
- 4 Min. Lesezeit

Seit dem 28. Juni 2025 gilt in Deutschland das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG). Das ist ein wichtiger Schritt, um digitale Angebote für Menschen mit Behinderung besser zugänglich zu machen. Betroffen sind vor allem private Unternehmen wie Betreiber von Onlineshops, Ticketplattformen oder digitalen Bank- und Zahlungsdiensten.
Für öffentliche Einrichtungen wie Behörden, Universitäten oder kommunale Organisationen gelten bereits andere Regeln. Hier greift die sogenannte Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung, kurz BITV 2.0. Beide Regelwerke stützen sich technisch auf die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG), aktuell in Version 2.1. Diese gelten international als Standard für digitale Barrierefreiheit.
Solche Vorgaben sind ein echter Fortschritt. Sie sorgen für Orientierung, ermöglichen Qualitätssicherung und bringen das Thema Barrierefreiheit auf die Agenda. WCAG, BITV 2.0 und das BFSG bilden gemeinsam ein solides Fundament. Aber ein Fundament allein reicht nicht.
Technische Konformität ist wichtig. Doch viele Barrieren entstehen jenseits des Quellcodes. Dort, wo zwar Regeln eingehalten werden, aber das Verständnis für die konkreten Bedürfnisse der Menschen fehlt, die digitale Angebote nutzen möchten.
Oft braucht es gar keine aufwendigen Lösungen. Schon kleine Maßnahmen können den Unterschied machen. Hier fünf Beispiele, die über die Standardanforderungen hinausgehen.
Barrierefreiheit im UX-Design beginnt bei den Nutzerinnen und Nutzern
Die WCAG fordern keine echten Usability-Tests mit Menschen mit Behinderung. Genau hier liegt jedoch großes Potenzial. Viele Barrieren zeigen sich erst im Alltag, wenn Assistenzsysteme wie Screenreader oder Sprachsoftware im Einsatz sind.
Ein starkes Beispiel liefert Evolving Web. Das Team hat eine Website mit echten Nutzerinnen und Nutzern getestet, mit Screenreadern, Tastatursteuerung und assistiver Software. Der Erfahrungsbericht zeigt eindrücklich, wie sich blinde und sehbehinderte Menschen im Interface bewegen und wo typische Probleme auftauchen.
Visuelle Klarheit für kognitive Zugänglichkeit
Personen mit ADHS, Autismus, Demenz oder Lernschwierigkeiten benötigen besonders übersichtliche Layouts. Sie profitieren von klarer Struktur, reduzierten Reizen und verständlicher Navigation. Die WCAG enthalten zwar einzelne Anforderungen zur Verständlichkeit und Vorhersehbarkeit, etwa in Bezug auf Sprache, Struktur oder wiederkehrende Navigationselemente.
Konkrete Hinweise zur visuellen Entlastung bei kognitiven Einschränkungen bleiben jedoch begrenzt. Genau hier setzt der Cognitive Accessibility Design Pattern Guide des W3C an. Er zeigt, wie Design und Struktur gezielt an neurodiverse Bedürfnisse angepasst werden können, zum Beispiel durch einfache Sprache, klare Orientierungspunkte oder reduzierte visuelle Ablenkung.
Unterstützung für alternative Eingabemethoden
Neben Tastaturbedienung und Screenreadern gibt es viele moderne Eingabesysteme. Von Sprachsteuerung über Eye-Tracking bis hin zu Schaltersteuerung. Die WCAG fordern grundsätzlich, dass Inhalte mit Tastatur bedienbar sein müssen. Damit wird eine gewisse technologische Offenheit gewahrt.
Eine gezielte Optimierung für alternative Eingabemethoden ist jedoch nicht Teil der formalen Anforderungen. Digitale Produkte, die gezielt für Augensteuerung oder Sprachnavigation gestaltet sind, gehen daher in der Praxis über das hinaus, was aktuell im Standard spezifiziert ist. Ein beeindruckendes Beispiel liefert Tobii Dynavox. Die TD I-Series Geräte ermöglichen die Steuerung von Webseiten und digitalen Tools allein durch Augenbewegung. Das funktioniert nur, wenn auch das Interface barrierefrei gestaltet ist.
Weniger Frust bei der Nutzung
Barrierefreiheit bedeutet auch, unnötige Frustration zu vermeiden. Die WCAG greifen wichtige Aspekte wie Fehlervermeidung, verständliche Rückmeldungen oder die Reduzierung kognitiver Belastung auf (insbesondere auf AAA-Niveau).
Dennoch fehlen konkrete Empfehlungen zu Aspekten wie Fortschrittsanzeigen, automatischer Zwischenspeicherung oder Rückgängig-Funktionen. Gerade diese Elemente bieten in der UX-Praxis wertvolle Unterstützung, etwa für Menschen mit Konzentrations- oder Gedächtnisproblemen. Barrierefreiheit im UX-Design umfasst genau solche Details – sie machen den Unterschied zwischen theoretischer Zugänglichkeit und echter Nutzbarkeit. Submittable zeigt, wie solche Elemente ein Formular deutlich zugänglicher machen können.
Barrierefreiheit über die Website hinaus
Barrierefreiheit endet nicht an der Startseite. PDFs, Formulare, E‑Mails und Buchungssysteme können ebenso große Hürden darstellen und werden oft vergessen. Die WCAG konzentrieren sich ausschließlich auf Webinhalte und decken diese Bereiche oft nicht ab.
Die Dialog Group macht genau darauf aufmerksam. In einem Projektartikel zeigen sie, wie barrierefreie Kommunikation ganzheitlich gedacht werden kann, nicht nur auf Webseiten, sondern auch bei allen flankierenden Formaten.
Fazit
Die WCAG, die BITV 2.0 und das BFSG sind ein starkes Fundament. Aber erst durch gelebte Praxis entsteht echte digitale Teilhabe. Die Beispiele oben zeigen, wie Barrierefreiheit konkret funktioniert und dass es oft gar nicht so kompliziert ist. Wer Projekte barrierefrei gestalten will, sollte über Checklisten hinausdenken. Es geht um Empathie, um Nutzerzentrierung und um den Willen, digitale Produkte für alle zugänglich zu machen.
Hinweis zur Einordnung
Dieser Artikel richtet sich an UX-Verantwortliche, Projektmanagerinnen und Projektmanager sowie Entscheidungstragende in der digitalen Produktentwicklung. Die beschriebenen Maßnahmen ergänzen die WCAG 2.1 dort, wo diese keine konkreten UX-Leitlinien bieten oder neue Technologien nicht abdecken.
Die WCAG wurden bewusst technologieunabhängig formuliert und konzentrieren sich auf überprüfbare Kriterien. Kognitive Zugänglichkeit, alternative Eingabesysteme oder interaktive Nutzerführung spielen nur eine untergeordnete Rolle.
Mit Blick auf WCAG 3.0, die BITV 2.0 und das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz ist klar: Barrierefreiheit ist kein Haken auf einer Checkliste, sondern ein Gestaltungsprozess, kontinuierlich, menschlich, sinnvoll.
Personal Note
Du planst ein barrierefreies Webprojekt? Oder suchst Unterstützung bei der Struktur, Konzeption oder Umsetzung? Ich helfe gerne. Schreib mir einfach eine Nachricht. Ich freue mich auf den Austausch.
Mit mehr als 20 Jahren Erfahrung im Bereich Online-Projektmanagement bin ich spezialisiert auf Beratung, Steuerung und Produktion komplexer digitaler Kampagnen für Social Media, Display Advertising, Performance Marketing und weitere digitale Touchpoints. Die Umsetzung von Websites sowie mehrsprachigen und technisch anspruchsvollen Plattformen gehört ebenfalls zu meinem Kerngeschäft.
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Foto: Duyet Le / Unsplash
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